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Kliniken im Umbruch

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2021

 

Fluch und Segen der Pandemie: Wie Krankenhäuser die Krisensituation bewältigt haben und welche Innovationen daraus hervorgegangen sind. Beispiele aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

Text: Verena Fischer

Auf einmal war nichts mehr wie zuvor: „Völliges Chaos, so würde ich das beschreiben“, kommentiert Prim. Dr. Harald Rubey, der ärztliche Leiter des Instituts für Medizinisch-Chemische Labordiagnostik und der Blutbank am österreichischen Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf, die Situation zu Beginn der Pandemie im März 2020. „Wir wussten nichts über den neuen Erreger, es gab keine Tests, keine Schutzausrüstung, und dann sind uns auch noch wichtige Materialien ausgegangen.“

Es fehlte an Pipettenspitzen, Masken, Schutzhandschuhen und vielem mehr. Vor allem Produkte aus Übersee erreichten ihr Ziel im Weinviertel kaum noch. „Und zu dem Ressourcenmangel mischten sich auch noch viel Angst und Unsicherheit“, erinnert sich Dr. Rubey. Trotz der Schwierigkeiten waren die Erwartungen an die Labore groß: „Wann geht es endlich mit den Testungen los, fragte man von allen Seiten. Aber womit, wenn die Ressourcen knapp sind?“

Österreich: Zentrallabor

Für den Laborfacharzt stand fest, dass es eine schnelle Lösung für die Krisensituation brauchte. Als ihn die Information erreichte, dass ein neuer Test zur Verfügung steht, der mit einem Hochleistungs- PCR-System durchführbar ist, reagierte er sofort. „Es ging dann von heute auf morgen, dass plötzlich Reagenzien da waren. Und über Nacht haben wir uns auf Testungen eingestellt und diese auf Hochtouren durchgeführt. Das werde ich wohl nie vergessen.“

Das ganze Laborteam hat Großes geleistet: Schon am frühen Morgen stapelten sich Probenröhrchen im Labor, manche gut gekennzeichnet, andere nicht. Bis zu 700 Tests pro Tag hat das Laborteam gemeinsam analysiert, befundet, übermittelt. „Es gab so viel zu tun, dass Mitarbeiter an ihre Grenzen gestoßen sind“, erzählt Dr. Rubey. Es war nicht absehbar, wie viele Tests am nächsten Morgen das Labor erreichen werden. „Planung war einfach nicht möglich.“ Zu dem Zeitdruck kamen dann noch die hohen Erwartungen. „Nach kurzer Zeit wurde schon ungeduldig auf die Ergebnisse gewartet. Danach dauerte die PCR-Untersuchung einige Stunden und schlussendlich mussten die Befunde händisch sortiert und an die Einsender gefaxt werden.“

Den Laborleiter freut, dass die Bedeutung der Labordiagnostik während der Pandemie deutlicher wahrgenommen wurde: „Unsere Stärke ist es schließlich, das Unsichtbare sichtbar zu machen. So auch bei asymptomatischen Verläufen.“ Der Experte hofft, dass sich der positive Eindruck hält und dafür sorgt, dass sich nun wieder mehr Nachwuchskräfte für diesen gesellschaftlich relevanten Bereich der Labormedizin interessieren werden.

Schweiz: Künstliche Intelligenz

Chaos, Zeitdruck, Lieferengpässe und fehlende Planbarkeit sind Schwierigkeiten, die während der Pandemie nicht nur im österreichischen Weinviertel allgegenwärtig waren. Krankenhäuser auf der ganzen Welt mussten sich an die neue Situation anpassen und innovative Lösungsansätze entwickeln. Das Universitätsspital Zürich hat dazu künstliche Intelligenz eingesetzt, die in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit vielen Fachbereichen sowie einer externen Firma, die sich auf komplexe Datenanalysen spezialisiert hat, dafür sorgte, dass der Materialbestand durchgängig sichergestellt und auf mögliche Versorgungsengpässe so zeitnah wie möglich reagiert werden konnte.

Florentina Pichler ist Qualitätsbeauftragte für Einkauf und Logistik am Spital: „Wir haben bereits wenige Tage vor dem ersten Lockdown mit dem Aufbau eines Versorgungsbarometers begonnen“, erzählt die gebürtige Österreicherin. Dabei handelt es sich um ein digitales Tool, das über Algorithmen kritische Versorgungslagen für verschiedene Auslastungsszenarien der Bettenkapazitäten frühzeitig erkennt sowie Prognosen über begrenzte Verfügbarkeiten von Artikeln berechnet. „Ein solches Tool hat es bisher in der Spitalwelt noch nicht gegeben.“

Das Ganze funktioniert so: „Unsere Versorgungslogistiker scannen benötigte Produkte auf den jeweiligen Abteilungen ein. Das löst im System eine Bedarfsanforderung aus, und es wird automatisch eine Bestellung generiert“, erklärt Pichler. Dann geht die Bestellung an den Lieferanten, der zurückmeldet, wann mit der Lieferung zu rechnen ist. All diese Daten fließen in das digitale Versorgungsbarometer ein. „Bei den Lagerartikeln läuft es etwas anders, da Bestellungen in der Regel erst ausgelöst werden, wenn bestimmte Mengen aufgebraucht sind“, so die studierte Biologin. Die Problematik sei, dass bisher kein adäquates Tool für die Bestellüberwachung im Krankenhauswesen existiere. „Bei uns gibt es etwa 25.000 aktiv bewirtschaftete Medizinprodukte. Mit Schutzausrüstung, Reinigungsmitteln und In-vitro-Diagnostika sind es sogar fast 38.000 Artikel. Und das macht natürlich eine Übersicht über das Bestellwesen sehr komplex.“

Übergreifende Zusammenarbeit

Mit dem digitalen Versorgungsbarometer hat das USZ nun als erste Klinik ein vollautomatisches Bestellsystem etabliert. „Während der Pandemie waren die Materialverbräuche im Vergleich zum Normalbetrieb sehr verändert. Der Bedarf an Schutzbrillen ist zeitweise um das 30- bis 60-Fache gestiegen. Bei FFP2-Masken haben wir einen achtmal so hohen Verbrauch wie normalerweise. Dadurch war es noch schwieriger, den Überblick zu behalten.“ Schließlich wollte plötzlich jeder auf die Produkte zugreifen – Privatpersonen wie auch große Institutionen, was die Beschaffung zusätzlich erschwert hat. „Besonders kleine Dinge oder Zwischenteile sind dann oft ausgegangen“, erinnert sich Pichler. Europaweit hat es beispielsweise an Pumpspendern für Desinfektionsmittel gefehlt. „Da haben wir dann kreative Lösungswege gehen müssen. Als es an Pumpspendern fehlte, haben wir eine hauseigene Abfüllung von Hand- und Flächendesinfektionsmitteln umgesetzt“, erzählt Florentine Pichler, die die unbürokratische interdisziplinäre Zusammenarbeit während der Pandemie als zukunftsweisend und besonders stärkend empfunden hat. „Und wir haben zum Beispiel Schutzbrillen im 3-D-Druck selbst produziert und dafür mit der ETH Zürich kooperiert.“

Deutschland: Netzwerke

„Gemeinsam zum Ziel“ lautet auch das Motto vieler Kliniken in Deutschland, die seit der Pandemie verstärkt Forschungsdaten über gemeinsame digitale Netzwerke sammeln, um diese Daten Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen. Eines dieser Netzwerke ist das Deutsche Register für COVID-19 Obduktionen, das von Prof. Dr. Peter Boor ins Leben gerufen wurde, der Oberarzt am Institut für Pathologie an der Uniklinik RWTH Aachen ist. „Mich hat im März 2020 sehr überrascht, dass wir fast kein Verständnis für COVID-19 und auch fast keine Autopsien hatten, obwohl es diese Krankheit schon längere Zeit in China gab. Und dann war recht schnell klar, dass wir auf diesem Gebiet etwas tun müssen, um die Erkrankung zu verstehen“, erklärt der Pathologe.

In vielen Ländern sind Obduktionen von COVID-19-Patienten aus Infektionsschutzgründen noch immer untersagt, und auch das Robert Koch-Institut hat in Deutschland zu Beginn der Pandemie davon abgeraten. „Wir haben dann erklärt, dass wir in der Pathologie sehr gut vorbereitet sind und standardmäßig infektiöse Autopsien durchführen. Unsere Grundidee war, dass wir durch Autopsien die Krankheit in ihrer Gesamtheit verstehen“, so Boor – und wenig später wurde das Register mit Unterstützung des Bundesverbands Deutscher Pathologen e. V. (BDP) und der Deutschen Gesellschaft für Pathologie (DGP) ins Leben gerufen. Das Ziel dieses Registers ist es, möglichst alle Obduktionsfälle von COVID-19-Erkrankten deutschlandweit zentral anonymisiert elektronisch zu erfassen und anschließend als zentrale Vermittlungsstelle für Datenanalysen und Anfragen zu dienen.

„Bei COVID-19 haben wir gelernt, wie groß das Ausmaß der Organschäden, vor allem der Lungen, bei schweren Krankheitsverläufen ist“, fasst der Oberarzt eines der Forschungsergebnisse zusammen. Es zeigen sich auch Unterschiede zu anderen ähnlichen Erkrankungen wie der Influenza. „In den Lungen der COVID-19-Erkrankten bilden sich mehr Blutgerinnsel. Dieses neue Wissen kann direkt in die Therapie einfließen, indem Mediziner Antikoagulanzien zum Schutz von Patienten einsetzen“, so Boor.

Notfalldaten in Echtzeit

Auf Vernetzung setzt auch das AKTIN-Notaufnahmeregister – eine Forschungsinfrastrukturinitiative unter der Leitung der Uniklinik RWTH Aachen und der Universitätsmedizin Magdeburg. Dort stellen derzeit mehr als 30 an AKTIN beteiligte deutsche Notaufnahmen Echtzeitdaten für die Forschung zur Verfügung. Zu Beginn der Pandemie kam eine Anfrage des Robert Koch-Instituts, das auf die Daten zugreifen wollte, um darauf aufbauend Maßnahmen sowie den täglich erscheinenden „Situation Report“ des RKI zu gestalten. „Uns war natürlich sofort klar, dass diese Kooperation während der Pandemie sinnvoll ist“, kommentiert Prof. Rainer Röhrig, studierter Humanmediziner und Direktor des Instituts für Medizinische Informatik an der RWTH Aachen. „Die Frage war: Wie bekommen wir die Daten, die wir in der Routine erheben, so aufbereitet, dass wir sie für die Unterscheidungsunterstützung in der Medizin und für die Forschung nutzen können? Das ist mit dem AKTIN-Netzwerk nun gelungen.“

Die Daten werden zum Beispiel genutzt, um zu untersuchen, wie sehr die Inanspruchnahme von Notfallbehandlungen durch Patienten mit akuten lebensbedrohlichen Indikationen wie einem Herzinfarkt zurückgegangen ist. „Hier kann man sehen, wo man öffentlichkeitswirksam gegensteuern muss, damit sich solche Patienten weiter in Kliniken trauen. Das hat sich das Robert Koch-Institut angeschaut“, erklärt Röhrig. Außerdem konnte das RKI anhand der Daten in zwei Fällen frühzeitig auf entstehende Hotspots hinweisen, weil lokal verstärkt Betroffene mit Lungenbeschwerden und lebensbedrohlichen Symptomen in Notaufnahmen vorstellig wurden.

Radar fürs Gesundheitssystem

Aktuell arbeitet Prof. Röhrig mit seinem Team daran, die Daten als Radar zu nutzen, der anzeigt, wann das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze zu kommen droht. „Die größte Limitation sind Krankenhaus, Intensivstation und Beatmungsgeräte. Dabei darf man die Kumulativeffekte nicht vergessen, da Intensivpatienten in der Regel recht lange in Behandlung bleiben. Um das besser absehen zu können, schauen wir, ob wir Prädiktoren aus Notaufnahmen finden können, die eine Prognose der Inanspruchnahme von Krankenhäusern ermöglichen.“

Summary

  • Die erste Coronawelle stellte die Krankenhäuser von heute auf morgen vor ungeahnte Herausforderungen. Auf unterschiedlichen Wegen sind sie damit umgegangen
  • Ein Krankenhaus in Österreich entwickelte eine innovative Teststrategie
  • Ein Schweizer Spital setzte künstliche Intelligenz bei der Materialversorgung ein
  • In Deutschland wurden zum Austausch von Informationen die behandelnden Ärzte mit Forschern und Pathologen vernetzt
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